Donnerstag, 15. November 2012

Modelleisenbahn

Mein Vater war Eisenbahner. Dies ist kein Schimpfwort, sondern eine Feststellung. Wir wohnten lange Zeit in einer Eisenbahner-Siedlung, d.h. in einem kleinen Ghetto nur für Familien, deren Mitbestimmungsberechtigte Mitglieder bei der Eisenbahn arbeiten, wie z.B. früher mein Vater. 

Eisenbahner und deren Kinder halten zusammen. Natürlich, leben sie ja auch in einem Ghetto zusammen. Viele meiner Freunden waren damals aus diesen solchen Eisenbahnerfamilien. Die Quizfrage ist: Was war damals das Hauptspielzeug? Computer? Gab es, aber nur für Firmen und reiche Familien (also keine Eisenbahnerfamilien). Handy? Gab es, mit Wählscheibe und Haltegriff für die Hand, mit dessen Hilfe das Telefon innerhalb eines Raumes rumtragen konnte, aber halt nur fürs Telefonieren. Kennt ihr diese Funktion? Nummer wählen (deshalb Wählscheibe), Freizeichen hören, dann mit den Gesprächspartner reden, schnell wieder auflegen (war ja kompliziert und teuer). Eben aber kein Spielzeug. Also was war das Hauptspielzeug? Natürlich eine Modelleisenbahn (wir waren ja eine Eisenbahnerfamilie).  

Meine Vater kaufte damals eine riesige Anlage von Märklin in Einzelstücke, d.h. nicht auf eine Holzplatte aufgebaut. Sie wurde deshalb in einem Koffer gelagert. Es war eine richtig gute Anlage und weil sie so riesig war, d.h. aus vielen Einzelstücke bestand, konnte ich nur immer nur Teile davon aufbauen und spielen, dies aber sehr gern.


Das Leben ist nicht einfach und meine Eltern ließen sich scheiden. Für mich war es eine Befreiung. Nachteil war: Wir waren keine Eisenbahnerfamilie mehr, d.h. nicht nur das wir auf einmal weniger Geld hatten, sondern wir durften unter einem gesunden Druck der Eisenbahn die Wohnung und das Ghetto verlassen, d.h. auch meine Freunde. Die Kombination aus Wohnung verlassen und kein Geld haben führte dazu, dass meine Mutter die Modelleisenbahn verkaufte. Ich habe es verstanden, war aber auch sehr traurig darüber.

Was ich nicht wusste war, dass meine Mutter lange, lange Zeit ein schlechtes Gewissen hatte. Das schlechte Gewissen war so tief, dass sie mir vor einigen Jahren eine Eisenbahn bei Aldi kaufte, natürlich kleiner als damals und nicht von Märklin. Ich war tief betroffen und nahm es dankend an. Natürlich spielte ich damit, aber die Packung liegt nun bei uns im Schrank. Nicht weiter schlimm.

Im Moment habe ich ein bisschen Zeit und stöbere auch ab und zu bei ebay rum. Eben habe ich eine ähnliche Modelleisenbahnanlage gefunden, die genauso aussieht, wie früher meine. Mein erster Impuls war: Kaufen!
Zweiter Impuls: Wofür? Wehmut? Erinnerungen?

Meine Gedanke sind zurzeit bei meiner kranken Mutter, und ich überlege, wie ich ihr mehr helfen und mit welchen Dingen ich ihr eine Freude machen kann. Ich werde lieber meine Modelleisenbahn von Aldi auspacken und damit spielen, um ihr zu zeigen, dass sie kein schlechtes Gewissen mehr haben braucht.

1 Kommentar:

  1. Obwohl ich die Geschichte kenne, muss ich zugeben, dass sie mich sehr berührte.
    Ich würde sie deiner Mutter vorlesen.

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